Ich bin deine Mutter

Produziert vom Theaterhaus Stuttgart

Darstellerin: Monika Kroymann;
Buch: Holger Franke und Monika Kroymann;
Regie: Holger Franke;
Regieassistenz: Silvia Menzel;
Bühne und Kostüm: Gudrun Schretzmeier;
Bühnenmalerei: Thomas Kaemmerer;
Fotos: Fridhelm Volk;
Lichtgestaltung: Karl-Heinz Maurer

(Uraufführung: 14.9.1991)


Früher Sommer. Später Nachmittag. Südliche Gegend. Am oberen Rand einer Schlucht eine Fläche mit Sand, Steinen, Büschen, Gehölz; leicht beschattet von den noch lebenden Zweigen einer Eichenruine, die aus dem Abgrund ragt.
Eine Frau liegt im Sand. Alter zwischen 50 und 60. Sie hat ein weißes Kleid an, hennarote Haare, ist auffallend geschminkt. Ein Schuh fehlt. Sie lebt, sie bewegt sich, kommt zu sich, kommt zum Sitzen.

Offensichtlich stimmt etwas mit ihren Augen und ihrem Kleid nicht. Vor 30 Jahren könnte es ihr gepasst haben, jedenfalls zu ihrem Alter. Die Frau spricht mit sich selbst, merkwürdig, selbstverständlich, nennt sich Margaretha und Maggi, läßt Margaretha mit Maggi sprechen, ihre Mutter aus sich sprechen und andere Personen. Mühelos versetzt sie sich in andere Lebensalter, Zeiten und andere Orte; sie hat aber Mühe, sich klar zu werden, wie sie dahingekommen ist, wo sie ist und wo sie hinwollte und will. Doch selbst wenn sie genau wüsste, wo’s lang geht: sie kann nicht gehen - ‘Mit meinen Füßen stimmt was nicht." Was ist mit ihr geschehen an diesem Tag? Etwas Entscheidendes, Veränderndes, Erschütterndes? Oder einfach zuviel für eine Person an einem Tag? Eines langen Tages Reise an den Abgrund.

Da ist eine Menge zusammengekommen. Zerwürfnisse, Waldbrände, Tiefflieger, Kriegsschrecken, erinnerte und gegenwärtige, Trennungen. Was ist mit ihrem Sohn? Was hat sie ihm - er ihr getan? Ist sie verrückt geworden?
Möglicherweise nicht, oder sie ist es schon lange. Sie ist Schauspielerin. So sieht sie auch aus, sonderbar, als wäre sie einem Theaterstück entlaufen. Allerdings spielt sie weiter: einer fiktiven Kellnerin gegenüber, bei der sie einen Campari-Orange für ihren anspruchsvollen Durst und einen Kübel Eiswasser mit Lappen für ihre lädierten Füße bestellt, gibt sie an beruflich unterwegs zu sein, unterwegs zu einer neuen Rolle und einem Treffen mit „ihrem" Regisseur, betreffend „Glückliche Tage" von Beckett. Ein Rendevous mit dunkler Vorgeschichte ...

„Kennen Sie Winnie? Winnie von Beckett? Die Frau von Willie, wohnt in der Mitte des Hügels bis büber die Hüften im Sand, so um die 50, gut erhalten, so wie ich. Wegen ihr sitze ich hier - bin auf dem Weg zu ihr hängen geblieben, eine Kette von Mißgeschicken ..."

Auf dem Weg muss sie mehr verloren haben als nur die Orientierung, etwas Lebenswichtiges, verloren durch eigene Schuld. Es könnte sich um ihren Sohn handeln. Um eine Liebe. Um Illusionen, Sicherheiten, Bilder, Träume, Heimat. „Man kann an einem Tag sehr alte und/oder kindlich werden, sein Leben verlieren oder (wieder)finden. Man kann sich diese Augenblicke nicht aussuchen, sie kommen unangemeldet, überfallartig, unfallartig." Plötzlich findet man sich im Sand wieder wie diese Frau: hingeworfen eine Landschaft, die mal idyllisch, freundlich, mal bedrohlich fremd wirkt. Eingetaucht in flirrendes Licht, verwirrt von tanzenden Schatten, Geräuschen, die zu grausamem Gelächter werden, beängstigendem Geschrei, Gezische, höhnischen verzerrenden Echos ihrer inneren und äußeren Stimmen, Widersprüche. Natürliche, unfaßbare fantasierte Ungeheuer. Pan läßt grüßen. Einer panischen Reaktion verdankt sie ihren Aufenthalt, im Sand, am Rande des Abgrunds. Je mehr sie das begreift, um so panischer wird sie.

Warum das so ist - das ist eine längere Geschichte. Die Geschichte einer Frau, die sich selbst ausgesetzt ist, unverhofft am fremden Ort, mit sich selbst sprechend, spielend, als Kind, Mutter, Schwester, Tochter, Sohn, Frau, Hexe, Zeitgenossin, Zeitgenießerin, Freundin, Feindin ... den Wind entdeckt, Vögel, Gerüche, Licht, Schtten, Farben, Geräusche, die Stille, den Augenblick ... und ihren dringenden Wunsch, in einer verwirrenden, verkehrten Welt sich selber zu gehören - und: Erde und Himmel natürlich.


Presse:

„Erfrischend ist, dass Monika Kroymann, selbst Mutter eines Sohnes, solche Momente nicht mit Melodramatik überlädt, sondern ihr komisches Potential genießt."(Esslinger Zeitung)„Meisterhaft modelliert Kroymann nicht nur die äußeren Handlungskonturen früherer Erlebnisse heraus, sondern auch den existentiellen Untergrund, die Trauer, die Tragik oder die Komik eines Schauspielerlebens. Außer den persönlichen Zeitgenossen läßt Holger Franke die alternde Schauspielerin eine ganze Legion von Gestalten der Weltliteratur lebendig machen, vor allem aus Werken Goethes, Kleists und Becketts." (Stuttgarter Zeitung)„Verkleidet als Kätchen von Heilbronn ist die Schauspielerin Margarethe in die Provence gefahren, jetzt liegt sie mit verstauchtem Knöchel im Sand vor einem Lavendelfeld und denkt wie Becketts einsame Winnie an lauter glückliche Tage ... Mit verteilten Rollen parodiert sie das Gespräch zwischen verzagter Mutter und stoffeligen Sohn, wobei sich Selbstmitleid witzig und einfühlsam in Selbstironie verwandelt."(Frankfurter Neue Presse)